Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung – nachträgliche subjektiv-rechtliche Aufladung

BVerwG NVwZ 2018, 1808 = DÖV 2019, 75 = BauR 2019, 70 = JuS 2019, 509 = JA 2019, 239 = Eifert, JK 3/19, Drittschützende Maßfestsetzung

Leitsätze:  1. Ob Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung auch darauf gerichtet sind, dem Schutz des Nachbarn zu dienen, hängt vom Willen der Gemeinde als Plangeber ab.    2. Wollte der Plangeber die Planbetroffenen mit den Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung in ein wechselseitiges nachbarliches Austauschverhältnis einbinden, sind diese Festsetzungen nachbarschützend. Dies gilt auch, wenn der Plangeber die nachbarschützende Wirkung im Zeitpunkt der Planaufstellung nicht in seinen Willen aufgenommen hatte (nachträgliche subjektiv-rechtliche Aufladung).

Sachverhalt (vereinfacht):
Der klagende Segelverein (V) ist Eigentümer eines am Wannsee gelegenen Ufergrundstücks, welches mit einem dreigeschossigen Vereinshaus und einer Wassersportanlage bebaut ist. Die beigeladene Susi Skrupellos ist Eigentümerin des unmittelbar benachbarten Ufergrundstücks. Beide Grundstücke liegen im Geltungsbereich des qualifizierten Bebauungsplans von 1959, welcher das Gebiet als Sonderzweckfläche für den Wassersport ausweist und u. a. die Zahl der zulässigen Vollgeschosse auf zwei festsetzt. Susi Skrupellos beabsichtigt auf ihrem Grundstück ein sechsgeschossiges Wohnhaus mit Gewerbeanteil und Tiefgarage zu errichten. Die zuständige Behörde erteilte ihr dafür einen Bauvorbescheid und kündigte darin die Befreiung nach § 31 II Nr. 2 BauGB von den Festsetzungen des Bebauungsplans für die Zahl der Vollgeschosse an. V erhebt Klage gegen die im Vorbescheid in Aussicht gestellte Befreiung.

Problemzonen und Weichenstellungen:
Die zulässige Drittanfechtungsklage des V ist begründet.

I. Der Bauvorbescheid (Art. 71 BayBO) ist rechtswidrig. 

Die von der zuständigen Behörde (Art. 53 I BayBO) in Aussicht gestellte Befreiung von der im Bebauungsplan festgesetzten zulässigen Zahl der Vollgeschosse ist von § 31 II BauGB nicht gedeckt. Nach § 31 II BauGB kann von den Festsetzungen des Bebauungsplans befreit werden, wenn 

  • die Grundzüge der Planung nicht berührt werden, 
  • einer der in Nr. 1 bis 3 genannten Tatbestände erfüllt ist und wenn
  • die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit öffentlichen Belangen vereinbar ist.

1. Die Grundzüge der Planung ergeben sich aus der den Festsetzungen des Bebauungsplans zugrunde liegenden und in ihnen zum Ausdruck kommenden planerischen Konzeption. Ob sie berührt werden, hängt von der jeweiligen Planungssituation ab. Entscheidend ist, ob die Abweichung dem planerischen Grundkonzept zuwiderläuft. Je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht der Planung eingreift, desto näher liegt der Schluss auf eine Änderung der Planungskonzeption, die nur im Wege der Umplanung möglich ist. Die Befreiung kann nicht als Vehikel dafür herhalten, die von der Gemeinde getroffene planerische Regelung beiseite zu schieben.

Durchblick: Durch diese Voraussetzungen ist durch den Gesetzgeber sichergestellt, dass die Festsetzungen des Bebauungsplans nicht beliebig durch Verwaltungsakt außer Kraft gesetzt werden. Die Änderung eines Bebauungsplans obliegt nach § 2 IV BauGB unverändert der Gemeinde (Planungshoheit!) und nicht der Bauaufsichtsbehörde. Hierfür ist in den §§ 3 und 4 BauGB ein bestimmtes Verfahren unter Beteiligung der Bürger und der Träger öffentlicher Belange vorgeschrieben, von dem nur unter den in § 13 BauGB genannten Voraussetzungen abgesehen werden kann. Diese Regelung darf nicht durch eine großzügige Befreiungspraxis aus den Angeln gehoben werden. 

Gemessen an diesen Maßstäben berührt die angegriffene Befreiung die Grundzüge der Planung:
Zentrales Anliegen des Plangebers von 1959 war es, durch die Festsetzung zum Nutzungsmaß, insbesondere die Beschränkung der Geschosszahl, das Landschaftsbild am Wannsee zu schützen und den Gebietscharakter zu erhalten. Das Konzept des „grünen Uferbereichs“ ist im wesentlichen auch verwirklicht worden und hat bis heute Bestand (also keine „Funktionslosigkeit“). Von der Wasserseite betrachtet vermittelt der Uferbereich des Wannsees den Eindruck einer grünen, naturbetonten Landschaft, in der die Bebauung merklich zurücktritt und die einzelnen Gebäude, soweit sie überhaupt sichtbar sind, deutlich unter der Baumgrenze bleiben. Das beabsichtigte – sechsgeschossige – Vorhaben der skrupellosen Beigeladenen S jedoch bricht durch seine Höhe mit diesem Konzept und berührt damit die Grundzüge der Planung.

2. Damit liegt auch der von der Behörde angeführte Tatbestand des § 31 II Nr. 2 BauGB nicht vor:

Beachte: Bei diesem Tatbestandsmerkmal ist die Schranke der ‚Grundzüge der Planung‘ – obwohl heute für alle Befreiungstatbestände zu beachten – besonders wichtig und geradezu von zentraler Bedeutung. 

Es verbietet sich, schon auf der Tatbestandsseite des § 31 II Nr. 2 BauGB eine Befreiung zuzulassen, die zwar ihrerseits städtebaulich vertretbar sein mag, aber das planerische Gesamtkonzept berührt oder ihm sogar widerspricht und es gar aus den Angeln hebt, weil es sich um Festsetzungen handelt, denen eine „Grund – oder sonstige Plankonzeption“ zu Grunde liegt und die von der Befreiung nicht nur unwesentlich berührt werden. 

Durchblick: Die Befreiung kann eben nicht als Vehikel dafür herhalten, die von der Gemeinde getroffenen Regelungen beiseite zu schieben.

3. Die von der Bauaufsichtsbehörde in Aussicht gestellten rechtswidrigen Befreiungen verletzen den Drittkläger, Segelverein V, auch in seinen Rechten als Grundstücksnachbar (§ 113 I 1 VwGO). 

Hiesige Festsetzungen zur Geschosszahl im Bebauungsplan sind nachbarschützend.

a) Anders als Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung sind Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung nicht schon kraft Bundesrechts drittschützend. Auch liegt kein Fall vor, in dem „Quantität in Qualität“ umschlüge und damit der Sache nach die Art der baulichen Nutzung beträfe (Beispiel: eine besonders große Vergnügungsstätte verändert den Charakter des Gebiets – oder ein Warenhaus beeinflusst wegen seiner Größe die Verkehrsverhältnisse des Baugebiets in nachhaltiger Weise).

b) Unter bestimmten Umständen können aber auch Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung nachbarschützender Charakter zukommen. Der baurechtliche Nachbarschutz beruht auf dem Gedanken des wechselseitigen Austauschverhältnisses, in dem der nachbarliche Interessenkonflikt durch Merkmale der Zuordnung, der Verträglichkeit und der Abstimmung benachbarter Nutzungen geregelt und ausgeglichen ist. Dieser Gedanke prägt nicht nur die Anerkennung der drittschützenden Wirkung von Festsetzungen über die Art der baulichen Nutzung, sondern kann auch eine nachbarschützende Wirkung von Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung rechtfertigen. Stehen solche Festsetzungen nach der Konzeption des Plangebers in einem wechselseitigen, die Planbetroffenen zu einer rechtlichen Schicksalsgemeinschaft verbindenden Austauschverhältnis, kommt ihnen nach ihrem objektiven Gehalt Schutzfunktion zugunsten der an dem Austauschverhältnis beteiligten Grundstückseigentümer zu. Ob Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung nachbarschützender Charakter zukommt, hängt daher vom Willen des Plangebers ab.

Achtung! Dies gilt auch dann, wenn der Bebauungsplan – wie hier – aus einer Zeit stammt, in der man ganz allgemein an einen nachbarlichen Drittschutz noch nicht gedacht hat. Der Umstand, dass der Plangeber die Rechtsfolge der nachbarschützenden Wirkung der Festsetzung über das Maß der baulichen Nutzung zum Zeitpunkt der Planaufstellung nicht in seinen Willen aufgenommen hatte, verbietet es nicht, die Festsetzung nachträglich subjektiv-rechtlich aufzuladen. Denn es entspricht allgemeiner Rechtsüberzeugung, dass das öffentliche Baurecht nicht in dem Sinne statisch aufzufassen ist, dass es einer drittschutzbezogenen Auslegung unzugänglich wäre. Baurechtlicher Nachbarschutz ist das Ergebnis einer richterlichen Rechtsfortbildung, welche zugleich von einer Auslegung der dafür offenen Vorschriften ausgeht.

Auf den Fall bezogen: 

Hiesige Maßfestsetzung war für den vom seinerzeitigen Planungsgeber konzipierten Charakter der Sondergebietsfläche für den Wassersport von wesentlicher Bedeutung. Maßgebliche Zielsetzung ist die Stärkung des Grünflächenanteils und die Gestaltung eines von sichtbarer Bebauung freien Ufers. Die Festsetzung der Geschosszahl soll zu der spezifischen Qualität des Sondergebiets beitragen und ist in dieser Zielsetzung nach dem Willen des Planungsgebers nachbarschützend.

c) Ob der Drittkläger V durch die Maßüberschreitung überhaupt einen (spürbaren) Nachteil erleidet, ist ohne Bedeutung. Nachbarschutz auf der Grundlage eines wechselseitigen Austauschverhältnisses ist – anders als das Gebot der Rücksichtnahme – nicht von einer konkreten Beeinträchtigung des Nachbarn abhängig.

II. Die Geltendmachung des Klageanspruchs durch V verstößt auch nicht gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB analog – unzulässige Rechtsausübung).

1. Eine rechtsmissbräuchliche Nachbarklage zum Schutze einer (eigenen) planwidrigen Nutzung muss erfolglos bleiben. Dies ist der Fall, wenn ein Kl. unter Berufung auf das nachbarliche Austauschverhältnis seine eigene Nutzung schützen möchte, die ihrerseits das nachbarliche Austauschverhältnis stört. Zutreffend ist, dass auch das dreigeschossige Gebäude auf dem Grundstück des klagenden Segelvereins V gegen die Maßfestsetzung über die zulässige Geschosshöhe verstößt. Er verlangt daher von seiner beigeladenen Nachbarin S die Einhaltung von Maßfestsetzungen, die er selbst (auch) nicht einhält.

2. Jedoch ist ein Nachbar unter dem Gesichtspunkt der unzulässigen Rechtsausübung nur gehindert, einen Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften geltend zu machen, wenn er in vergleichbarer Weise, dh etwa im selben Umfang, gegen diese Vorschriften verstoßen hat. Das ist nicht der Fall. Das Ausmaß, in dem das Vereinshaus des Segelvereins V mit den Festsetzungen über die zulässige Zahl der Geschosse unvereinbar ist, bleibt deutlich hinter dem Ausmaß des Verstoßes des Bauvorhabens der Beigeladenen S zurück. Denn während das Vereinshaus des V drei Geschosse hat, soll das Bauvorhaben der skrupellosen Beigeladenen sechs Geschosse haben. Letzteres überschreitet damit das zulässige Maß der baulichen Nutzung im Vergleich zum Vereinshaus des klagenden V um ein Mehrfaches.

Ergebnis:
Die Nachbarklage des Segelvereins V ist begründet.