Wiedereinsetzung nach Versäumung der Berufungsbegründungsfrist – außergewöhnliche Umstände

BVerwG NJW 2015, 1976 = BayVBl. 2015, 688 = JuS 2015, 1055

Leitsatz:   Ein als Einzelanwalt tätiger Rechtsanwalt, der vor dem Verlassen der Kanzlei seiner einzigen Bürokraft die mündliche Weisung erteilt, einen Schriftsatz zur Wahrung einer Rechtsmittelbegründungsfrist im Lauf des Nachmittags per Telefax an das zuständige Gericht abzusenden, muss keine organisatorischen Vorkehrungen dagegen treffen, dass die Anweisung deshalb nicht ausgeführt wird, weil seine Bürokraft nach der Nachricht von einem Unfall ihrer Tochter überstürzt die Kanzlei verlässt, ohne den Auftrag auszuführen.

Sachverhalt:
Das OVG Greifswald hatte die Berufung wegen Verfristung verworfen und den Antrag des Kl. auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgelehnt. Auf die Beschwerde des Kl. hat das BVerwG den Beschluss des OVG aufgehoben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Entscheidung an das OVG zurückverwiesen.

Problemzonen und Weichenstellungen:
Die Anforderungen an die Sorgfaltspflicht eines Rechtsanwalts, dessen Versäumnis dem Mandanten gemäß §§ 173 VwGO iVm 85 II ZPO zugerechnet wird, sind im Vergleich zu denjenigen eines schlichten Bürgers äußerst streng. Delegiert der Anwalt die Einhaltung von Fristen auf sein Personal, so muss er grundsätzlich selbst strenge organisatorische Vorkehrungen gegen eine Fristversäumnis treffen. Erfolgreiche Anträge sind in der Praxis daher äußerst selten und die Gründe müssen schon nahezu dramatisch sein. Das BVerwG schildert ausführlich die außerordentlichen Umstände des konkreten Falles:

„Der als Einzelanwalt tätige Prozessbevollmächtigte … hatte mit dem Wiedereinsetzungsantrag unter Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung seiner über einen Abschluss als Rechtsfachwirtin verfügenden Kanzleikraft K vorgetragen, dass er am Tag des Fristablaufs für die Berufungsbegründung seine bisher stets zuverlässige Angestellte angewiesen habe, einen Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist zu fertigen. Ein entsprechender Schriftsatz sei ihm daraufhin mit der übrigen Ausgangspost kurz vor 14 Uhr zur Unterzeichnung vorgelegt worden. Er habe nach Unterzeichnung des Schriftstücks Frau K unter Hinweis auf den Fristablauf an diesem Tage ausdrücklich angewiesen, den Antrag rechtzeitig im Lauf des Nachmittags vorab per Fax an das OVG zu versenden. Frau K habe dies zugesichert, woraufhin er um 14 Uhr die Kanzlei wegen eines Besprechungstermins in Leipzig für diesen Tag verlassen habe. Am nächsten Tag habe ihm Frau K mitgeteilt, dass sie den Schriftsatz nicht versandt habe, da sie gegen 15 Uhr einen Anruf ihrer Mutter erhalten habe, dass ihre vierjährige Tochter von einem Klettergerüst gefallen sei, stark aus dem Mund blute und sich nicht beruhigen lasse. Daraufhin habe sie sofort die Kanzlei verlassen, sei zu dem Spielplatz gefahren und habe dort ihre Tochter in Empfang genommen und nach Hause gebracht. Dort habe sie ihre Tochter versorgt und festgestellt, dass sie sich auf die Zunge gebissen habe. Sie habe sich den ganzen Nachmittag, den Abend und die Nacht um ihre Tochter gekümmert. In der Aufregung habe sie nicht mehr an den abzusendenden Schriftsatz gedacht.“
Hier ist es nicht nur menschlich verständlich, dass die Mutter buchstäblich „alles stehen und liegen lässt“, sondern das BVerwG erkennt auch die rechtliche Dimension des Vorfalls an:

„Damit hatte der Prozessbevollmächtigte … glaubhaft gemacht, dass ihn kein Verschulden an der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist trifft (§ 60 II 2 VwGO). Bei der Übermittlung eines fristgebundenen Schriftsatzes per Fax an das Gericht handelt es sich um eine einfache technische Einrichtung, die ein Rechtsanwalt einer hinreichend geschulten und überwachten Kanzleikraft überlassen darf… Der Anwalt ist aber angehalten, Fehlerquellen bei der Behandlung von Fristsachen soweit wie möglich auszuschließen. Entscheidend ist, ob die vom Anwalt allgemein oder im konkreten Fall gegebenen Anweisungen nach Maßgabe der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt ausreichen, um den rechtzeitigen Zugang des Schriftstücks beim Empfänger sicherzustellen. Gibt der Anwalt einer bisher zuverlässigen und fachlich qualifizierten Kanzleikraft eine konkrete mündliche Einzelanweisung über die rechtzeitige Übermittlung eines fristwahrenden Schriftsatzes, darf er grundsätzlich darauf vertrauen, dass sie befolgt wird … Auf allgemeine organisatorische Vorkehrungen für die Fristwahrung kommt es in diesem Fall nicht an.[2] Dieser Grundsatz gilt aber nicht ausnahmslos. Betrifft die Einzelanweisung – wie hier – einen solch wichtigen Vorgang wie die Wahrung einer Rechtsmittelbegründungsfrist und wird sie nur mündlich erteilt, müssen in der Kanzlei ausreichende organisatorische Vorkehrungen dagegen getroffen sein, dass die Anordnung im Drang der Geschäfte in Vergessenheit gerät und die Frist dadurch versäumt wird. Wird nicht unmissverständlich die sofortige Versendung angeordnet, sondern der Kanzleikraft – wie hier – ein Spielraum von mehreren Stunden zur Erledigung der aufgetragenen Arbeit eingeräumt, bedeutet das Fehlen jeder Sicherung einen Organisationsmangel.“

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe hätte das OVG Wiedereinsetzung in die Frist zur Begründung der Berufung gewähren müssen:
„Nach der eidesstattlichen Versicherung seiner Angestellten K hat diese nach der Nachricht über den Unfall und die Verletzung ihrer erst vier Jahre alten Tochter alles stehen und liegen lassen und ist zu ihrer Tochter geeilt. Auch in den folgenden Nachmittags- und Abendstunden hat sie in Sorge um ihre Tochter die Kanzleiangelegenheiten aus den Augen verloren.

Bei dieser Sachlage hätte auch eine allgemeine oder im Einzelfall gegebene Anweisung, etwa dergestalt, dass unmittelbar nach der mündlichen Anweisung ein entsprechender Vermerk in den Fristenkalender einzutragen oder erst nach Erledigung zu löschen ist …, die Ausführung des Auftrags nicht sichern können. Es hat sich mit dem durch die Unfallnachricht veranlassten sofortigen Aufbruch der Kanzleikraft des Prozessbevollmächtigten … ein anderes Risiko verwirklicht als das, vor dem die unterlassenen organisatorischen Vorkehrungen hätten schützen sollen. … Vorsorge auch gegen ein solches mit dem normalen Geschäftsablauf einer Kanzlei nicht im Zusammenhang stehendes Risiko zu treffen, war der Prozessbevollmächtigte nicht verpflichtet. Es würde nicht zuletzt angesichts des Verfassungsbezugs des Wiedereinsetzungsrechts zu Art. 103 I und Art. 19 IV GG eine Überspannung der individuellen Sorgfaltspflichten bedeuten, wollte man von einem als Einzelanwalt tätigen Rechtsanwalt, der nur eine Kanzleikraft beschäftigt, umfassende organisatorische Vorkehrungen auch gegen solche außerhalb seines Einwirkungsbereichs liegende Zwischenfälle verlangen.“