Schadensersatz und Schmerzensgeld wegen Ingewahrsamnahme über Nacht

OLG Koblenz NVwZ-RR 2018, 615 = Kingreen, JK 1/19, GG Art. 34, BGB § 839, POG RP § 14 I Nr. 1

Leitsätze:   1. Die Polizei ist berechtigt, eine Person in Gewahrsam zu nehmen, wenn das zum Schutz der Person gegen eine Gefahr für Leib oder Leben erforderlich ist, insbesondere weil die Person sich erkennbar in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand oder sonst in hilfloser Lage befindet.    – 2. Stellt eine Fachärztin für Psychiatrie nach Ingewahrsamnahme der Person und von ihr vorgenommener Untersuchung fest, dass durch diese Person weder eine Eigen- noch Fremdgefährdung ausgeht, so ist die weitere Ingewahrsamnahme der Person amtspflichtwidrig.    – 3. Die Ingewahrsamnahme einer Person über Nacht auf der Polizeidienststelle für die Dauer von ca. 13 Stunden stellt einen weniger gravierenden Eingriff als die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus für die Dauer von bis zu 24 Stunden dar. Hierfür ist unter Berücksichtigung der obergerichtlichen Rechtsprechung ein Schmerzensgeld von 400,00 € angemessen, aber auch ausreichend.

Sachverhalt (vereinfacht):
Lisa Laser ist Lehrerin an einer integrierten Gesamtschule. Seit Herbst war sie gehäuft und seit dem 16.3. des Folgejahres durchgängig dienstunfähig. Am Abend des 26.7. ging bei der zuständigen Polizeiinspektion ein Anruf des Nachbarn N ein. Dieser berichtete, dass L ihn attackiere und er Schlimmeres befürchte. Zwei im Dienst des Landes Rheinland-Pfalz stehenden Polizeibeamten begaben sich gegen 18.40 h zu der Wohnung der L, in die sie unterdessen zurückgekehrt war. Beim Eintreffen der Polizisten schrie L laut  los, so dass ein vernünftiges Gespräch mit ihr nicht zu führen war. Auf dem Boden neben L befand sich eine halbleere Flasche Pernod. Einen Alkoholtest lehnte L ab. Die Polizeibeamten ordneten daraufhin eine Untersuchung von L in einem Krankenhaus an. Nachdem der verständigte Krankenwagen eingetroffen war, leistete L der Anordnung, sich in diesen zu begeben, keine Folge, worauf die Polizisten sie ergriffen, in den Krankenstuhl setzten und in den Krankenwagen schoben. Während der etwa 20-minütigen Fahrt zum Krankenhaus wurde L von einem der beiden Beamten an beiden Armen festgehalten. Dabei erlitt L Verletzungen des linken Arms und der linken Schulter. Im Krankenhaus wurde sie eingehend von einer Fachärztin für Psychiatrie untersucht, die den Verdacht einer Alkoholerkrankung äußerte, aber vermerkte, dass von L trotz ihrer hochgradigen Alkoholisierung (Blutalkoholkonzentration: 3,1 Promille) keine Eigen- oder Fremdgefährdung ausgehe. Eine richterliche Entscheidung wurde nicht eingeholt.

Beim Verlassen des Krankenhauses wurde L durch entsprechende Anordnung in polizeilichen Gewahrsam genommen. Da L sich weigerte, mussten die beiden Polizeibeamten sie gewaltsam in das Polizeifahrzeug setzen und dort festhalten. Nachdem L in der Polizeidienststelle in eine Ausnüchterungszelle verbracht worden war, holte die Polizei die erforderliche Entscheidung des zuständigen Untersuchungsrichters ein, der L anhörte und sodann für die Nacht ihren Verbleib in der Polizeidienststelle verfügte. Am nächsten Morgen durfte L in ihre Wohnung zurückkehren.

L hält sowohl die Verbringung ins Krankenhaus als auch in die Polizeidienststelle für rechtswidrig und fragt, ob sie einen Anspruch gegen das Land R auf Schmerzensgeld hat. Zudem möchte sie wissen, bei welchem Gericht sie Klage erheben müsse.

Problemzonen und Weichenstellungen:
I. Amtshaftungsanspruch nach Art. 34 GG iVm § 839 BGB

1. Die beiden Polizeibeamten haben in Ausübung eines öffentlichen Amtes gehandelt, als sie L zunächst in ein Krankenhaus und nach der Untersuchung in die Polizeidienststelle verbracht haben.

2. Die Beamten müssten eine L gegenüber bestehende Amtspflicht verletzt haben. Es kommt die Verletzung der allgemeinen Amtspflicht zu rechtmäßigem Verwaltungshandeln (Art. 20 III GG) in Betracht.

a) Fraglich ist, ob die Verbringung von L in das Krankenhaus rechtmäßig war. Dabei handelte sich polizeirechtlich um eine Ingewahrsamnahme, da L daran gehindert wurde, einen eng umgrenzten Raum zu verlassen („Freiheitsbeeinträchtigung in jede Richtung“).

aa) Als Rechtsgrundlage kommt insoweit Art. 17 I Nr. 1 PAG in Betracht. Danach kann eine Person in Gewahrsam genommen werden, wenn das zum Schutz der Person gegen eine Gefahr für Leib und Leben erforderlich ist, insbesondere weil die Person sich erkennbar in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand oder sonstiger hilfloser Lage befunden hat.
Art. 17 I Nr. 1 PAG setzt weiter eine Gefahr für Leib oder Leben der in Gewahrsam genommenen Person voraus. Im Hinblick auf die hochgradige Alkoholisierung von L kann man zumindest eine Gesundheitsgefahr bejahen. Auch Bedenken an der Verhältnismäßigkeit bestehen insoweit nicht.

bb) Fraglich ist insbesondere, ob nach Art. 18 PAG eine richterliche Entscheidung hätte eingeholt werden müssen. Das Landgericht hatte dies mit dem – unrichtigen – Argument verneint, dass es sich lediglich um eine Freiheitsbeschränkung, nicht aber um eine Freiheitsentziehung gehandelt habe; allein für letztere bedürfe es nach Art. 104 II GG und Art. 18 I 1 PAG einer richterlichen Entscheidung. Allerdings: Wenn auch das Gericht zutreffenderweise von einer Ingewahrsamnahme ausgeht (auch das Polizeifahrzeug ist ja ein umgrenzter Raum), liegt verfassungsrechtlich eine Freiheitsentziehung vor, für die es grundsätzlich einer richterlichen Entscheidung bedarf. Allenfalls könnte man vertreten, dass eine notwendige richterliche Entscheidung im Hinblick auf die Gefahr im Verzug gar nicht rechtzeitig hätte eingeholt werden Art. 18 I 6 PAG.

Zwischenergebnis:
Die Verbringung von L in das Krankenhaus war daher rechtmäßig, allerdings nur, wenn man von Gefahr im Verzug ausgeht, Art. 18 I 1 PAG.

b) Fraglich ist jedoch die Rechtmäßigkeit der Verbringung auf die Polizeidienststelle (statt nach Hause zu L) und das Festhalten bis zum nächsten Morgen.
Auch insoweit kommt zwar die Standardbefugnis des Art. 17 I Nr. 1 PAG in Betracht und wurde die erforderliche richterliche Entscheidung eingeholt. Die materielle Rechtmäßigkeit ist aber zu verneinen, weil L von der Fachärztin für Psychiatrie attestiert wurde, dass von ihr weder eine Eigen- noch eine Fremdgefährdung ausgeht. Damit lag zu diesem Zeitpunkt keine Gefahr im polizeirechtlichen Sinne mehr vor.

Zwischenergebnis:
Damit war die Ingewahrsamnahme der L ab dem Zeitpunkt der ärztlichen Untersuchung rechtswidrig.

3. Das Verhalten von P1 und P2 war auch schuldhaft.

4. L hat nach § 253 II BGB für die erlittene Verletzung ihrer Freiheit einen Anspruch auch auf Schmerzensgeld, den sowohl das LG (als Vorinstanz) als auch das OLG bei 400 € ansetzen. Hingegen sind die Gesundheitsverletzungen irrelevant, weil L diese vor der – rechtmäßig eingeleiteten – Untersuchung im Krankenhaus im Rahmen ihrer rechtswidrigen Gegenwehr erlitten hat.

II. Für die Klage sind nach Art. 34 S. 3 GG die ordentlichen Gerichte zuständig. Sachlich zuständig ist dabei unabhängig vom Streitwert das Landgericht (§ 71 II Nr. 2 GVG).