Neun Kakadus im reinen Wohngebiet

OVG Münster BeckRS 2016, 42301
Leitsatz: Eine dem Wohnen zu- und untergeordnete Haltung von Haustieren, die traditionell in Wohnungen gehalten werden, ist von einer Genehmigung zur Wohnnutzung gedeckt.

Sachverhalt:
Klara Kadaku ist Eigentümerin des Grundstücks … in H., das mit einem Einfamilienhaus bebaut ist. Das Grundstück liegt im Geltungsbereich des Bebauungsplans der Stadt H., der für das Grundstück der Klägerin und die umgebenden Grundstücke ein Reines Wohngebiet (WR) gemäß § 3 BauNVO festsetzt. Im Rahmen eines Ortstermins wurde festgestellt, dass K neun Kakadus in ihrem Wohngebäude hielt. Am 21. Juni erließ die Bauaufsichtsbehörde eine bauordnungsrechtliche Verfügung, mit der sie K aufforderte, bis zum 20. Juli die Haltung von mehr als zwei Papageienvögeln auf ihrem Grundstück einzustellen, die sofortige Vollziehung dieser Verfügung anordnete und für den Fall, dass K der Verfügung nicht oder nicht vollständig nachkommen sollte, ein Zwangsgeld in Höhe von 500 € androhte. Zur Begründung führte sie aus, dass das Halten von so vielen Papageienvögeln nach den Festsetzungen des Bebauungsplans unzulässig sei. Wegen ihrer besonderen Eigenart sei die Haltung von exotischen Vögeln im festgesetzten Reinen Wohngebiet nur bedingt gebietsverträglich und im Übermaß unzulässig. Durch die Vögel werde die Wohnruhe in einer mit dem Charakter eines Reinen Wohngebietes nicht zu vereinbarenden Weise empfindlich gestört. Der damit von K verursachte formell und materiell baurechtswidrige Zustand stelle eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung gemäß Art. 3 BayBO dar. Da die Haltung nur eines Papageienvogels mit den Grundsätzen des Tierschutzrechts unvereinbar wäre, werde K die Haltung von zwei Papageienvögeln zugestanden, was noch gerade gebietsverträglich sei. Wegen der bei der Haltung von zwei Papageienvögeln zu erwartenden Lärmbeeinträchtigungen der Nachbarschaft müssten aber geeignete Maßnahmen getroffen werden, um diese Lärmbeeinträchtigungen zu minimieren. Ebenfalls am 21. Juni erließ die Behörde einen Gebührenbescheid für die Ordnungsverfügung in Höhe von 400 €.

K hat am 15. Juli Klage erhoben und diese im Wesentlichen folgendermaßen begründet: Es sei nicht ersichtlich, warum die Haltung von neun Papageienvögeln in einem Reinen Wohngebiet unzulässig sein sollte. Es liege insbesondere keine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vor. Lediglich in den vom Ordnungsamt festgelegten Zeiten zwischen 10 h und 12 h sowie zwischen 17 h und 19 h würden die Vögel ins Freie gelassen beziehungsweise die Fenster der Räume geöffnet, in denen sie sich aufhielten. Bei einer solchen Handhabung störten die Vögel die Wohnruhe nicht. Die Haltung der Papageienvögel sei sozialadäquat und baugebietskonform. Lediglich ein Raum ihres Hauses werde dafür genutzt. Die anderen Räume dienten ausschließlich Wohnzwecken. Ferner sei die in der Ordnungsverfügung genannte Frist zur Aufgabe der Haltung von mehr als zwei Papageienvögeln deutlich zu kurz bemessen. Die Ordnungsverfügung sei auch unverhältnismäßig, da sie, K, nur noch für eine Übergangszeit mit ihren Vögeln in dem Haus wohne und dieses ab Anfang nächsten Jahres vermieten werde. Eine Rückkehr sei aber nicht ausgeschlossen, um dann – wenn das gerichtliche Verfahren Erfolg habe – wieder mehrere Kakadus zu halten.

Problemzonen und Weichenstellungen:
K ist durch die bauordnungsrechtliche Verfügung, mit der ihr aufgegeben worden ist, die Haltung von mehr als zwei Papageienvögeln auf ihrem Grundstück einzustellen, nach wie vor beschwert und daher klagebefugt gemäß § 42 II VwGO. Die Ordnungsverfügung hat ihre Wirksamkeit nicht verloren. Das OVG Münster:

„Ein Verwaltungsakt bleibt nach [Art. 43 II BayVwVfG] wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist. …

Nach diesen Maßstäben hat sich die Ordnungsverfügung nicht erledigt. Sie dient nach ihrem objektiven Regelungsgehalt weiterhin der dauerhaften Verhinderung der Haltung von mehr als zwei Papageienvögeln auf dem Grundstück der Klägerin. Diese Nutzung ist weder dadurch, dass die Klägerin nach Erlass der Ordnungsverfügung zeitweise nicht mehr auf dem in ihrem Eigentum stehenden Grundstück gewohnt hat, auf das sich Ordnungsverfügung bezieht, noch dadurch, dass sie derzeit, um der Ordnungsverfügung zu entsprechen, keine Papageienvögel auf diesem Grundstück hält, dauerhaft aufgegeben worden. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat auf Befragen erklärt, es sei für sie nicht ausgeschlossen, dass sie ‑ wenn sie mit ihrer Klage Erfolg habe ‑ auf ihrem Grundstück wieder mehr als zwei Papageienvögel halten werde.“

Die Klage ist auch begründet.

Die Ordnungsverfügung vom 21. Juni ist rechtswidrig und verletzt K in ihren Rechten, § 113 I 1 VwGO.

Gemäß Art. 76 Satz 2 BayBO haben die Bauaufsichtsbehörden bei der Nutzung baulicher Anlagen darüber zu wachen, dass öffentlichrechtliche Vorschriften eingehalten werden und in Wahrnehmung dieser Aufgaben nach pflichtgemäßem Ermessen die erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Eine auf diese Vorschrift gestützte Nutzungsuntersagung setzt zumindest voraus, dass die untersagte Nutzung formell baurechtswidrig ist oder dass sie materiell baurechtswidrig ist und der Nutzungsuntersagung keine bauaufsichtliche Genehmigung entgegensteht. Diese Voraussetzungen sind nicht gegeben. Die für das Wohnhaus der K erteilte Baugenehmigung steht der Nutzungsuntersagung, die auch die Haltung von Papageienvögeln in der Wohnung der K erfasst, entgegen. Zudem ist die Ordnungsverfügung in einer zu ihrer Aufhebung führenden Weise ermessensfehlerhaft:

„Die der Klägerin untersagte Haltung von mehr als zwei Papageienvögeln auf ihrem Grundstück ist, soweit die Papageienvögel in ihrer Wohnung gehalten werden, im Rahmen der Variationsbreite der Baugenehmigung von der genehmigten Wohnnutzung umfasst und damit formell legal. Die Legalisierungswirkung der Baugenehmigung steht damit der angefochtenen Ordnungsverfügung entgegen. Da sich die mit der Ordnungsverfügung ausgesprochene Nutzungsuntersagung angesichts des in ihr zum Ausdruck gebrachten einheitlichen Regelungswillens nicht dahingehend aufspalten lässt, dass sie sich einerseits auf die Nutzung des Wohnhauses der Klägerin und andererseits auf die Nutzung ihres Grundstücks im Übrigen beziehen soll, ist sie insgesamt rechtswidrig.“

Die Haltung von Haustieren in einer Wohnung entspricht grundsätzlich üblicher Wohnnutzung und lässt sich von der sonstigen Wohnnutzung nicht trennen:

„Die Zulässigkeit dieser Form der Tierhaltung ist Ausfluss der allgemeinen Handlungsfreiheit, die den Einzelnen im Rahmen der Gesetze berechtigt, das Wohnen als bedeutenden Teil seiner Existenz nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Haustiere, die in einer Wohnung gehalten werden, leben typischerweise gemeinsam mit den Tierhaltern in mehreren oder allen auch im Übrigen zum Wohnen genutzten Räumen. Diese Art der Nutzung von zum Wohnen genehmigten Räumen auch für die Haltung von Haustieren ist von der Genehmigung zur Wohnnutzung gedeckt, solange die Tierhaltung nicht gewerblich motiviert und dem Wohnen zu- und untergeordnet ist. Einer gesonderten Baugenehmigung zur Haltung von Haustieren in der beschriebenen Weise bedarf es nicht. Zu den Haustieren, die traditionell und häufig in der Wohnung gehalten werden, gehören neben beispielhaft zu nennenden Hunden und Katzen auch Vögel einschließlich der Papageienvögel, zu denen unter anderem auch Wellensittiche zählen.“

Die Haltung von Haustieren in der Wohnung liegt erst dann außerhalb der Variationsbreite einer Baugenehmigung zur Wohnnutzung, wenn das Wohnen im Übrigen gegenüber der Tierhaltung in den Hintergrund tritt. Ob dies der Fall ist, lässt sich nicht generell bestimmen, sondern muss anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls festgestellt werden.

„Die Haltung von mehr als zwei Papageienvögeln in der Wohnung der Klägerin hält sich grundsätzlich innerhalb der Variationsbreite der genehmigten Wohnnutzung. Diese Variationsbreite wäre nur verlassen, wenn das Wohnen mit mehr als zwei Papageienvögeln – also bereits mit drei Papageienvögeln – baurechtlich ein aliud im Vergleich zum Wohnen mit bis zu zwei Papageienvögeln oder zum Wohnen ohne Papageienvögel wäre. Ein aliud liegt nach ständiger Rechtsprechung … immer dann vor, wenn sich das tatsächlich verwirklichte Vorhaben in Bezug auf baurechtlich relevante Kriterien von dem genehmigten Vorhaben baulich oder im Hinblick auf die Nutzung unterscheidet. Ein solcher baurechtlich relevanter Unterschied zwischen dem verwirklichten und dem genehmigten Vorhaben ist anzunehmen, wenn sich für das abweichend von der Baugenehmigung verwirklichte Vorhaben die Frage der Genehmigungsfähigkeit wegen geänderter tatsächlicher oder rechtlicher Voraussetzungen neu stellt. Das ist hier nicht der Fall. Dass die Haltung von mehr als zwei Papageienvögeln in der Wohnung der Klägerin – unabhängig von der Art und der Zahl der gehaltenen Tiere sowie der konkreten Umstände der Haltung – das Wohnen im Übrigen gegenüber der Tierhaltung derart in den Hintergrund treten lassen würde, dass die Nutzung insgesamt nicht mehr von der für das Wohnhaus erteilten Baugenehmigung gedeckt sein könnte, ist fernliegend.“

Die von der Bauaufsichtsbehörde in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat geäußerte Auffassung, die Haltung von Papageienvögeln sei eine Nutzung, die bei der in Anwendung der Baugebietsvorschriften der Baunutzungsverordnung gebotenen typisierenden Betrachtung wegen ihres Störpotenzials in einem Reinen Wohngebiet nicht gebietsverträglich sei, teilt das OVG Münster nicht:

„In welchen Baugebieten das Wohnen zulässig, eingeschränkt zulässig oder unzulässig ist, bestimmen die §§ 2 bis 9 BauNVO. Einer darüber hinausgehenden willkürfreien Differenzierung nach einer bestimmten, typisierenden Ausgestaltung des Wohnens, etwa nach der Art und der Zahl der in der Wohnung gehaltenen Haustiere, an die das Kriterium der Gebietsverträglichkeit der Art der Nutzung anknüpfen könnte, ist die Wohnnutzung angesichts der vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten, der sie unterliegt, nicht zugänglich. …

Ein derart kleinteiliger Eingriff in die den Kernbereich der Privatsphäre betreffende Gestaltungsfreiheit des Einzelnen bei Verwirklichung seiner Wohnvorstellungen ist mit den auf die Nutzung des Bodens ausgerichteten Baugebietsvorschriften auch nicht bezweckt.

Im Übrigen wäre, wollte man die Haltung von Papageienvögeln im Reinen Wohngebiet typisierend als gebietsunverträglich ansehen, auch die Haltung eines Papageienvogels dort nicht zulässig. Dass eine typisierende Betrachtung dann trotzdem dazu führen könnte, die Haltung von zwei Papageienvögeln im Reinen Wohngebiet – wie in der Begründung der Ordnungsverfügung ausgeführt – als noch gebietsverträglich zu erachten, vermag der Senat nicht nachzuvollziehen. Zur mündlichen Verhandlung ist auch kein Bediensteter der Beklagten erschienen, um dem Senat die Überlegungen zu erläutern, die dieser in der Ordnungsverfügung vertretenen Rechtsauffassung zugrunde liegen.“

Ob die mit der Haltung von Haustieren in einer Wohnung im Einzelfall verbundenen Emissionen sozialadäquat sind oder die in einem Reinen Wohngebiet besonders schützenswerte Wohnruhe in einer unzumutbaren Weise stören, ist für die Beantwortung der Frage, ob die Tierhaltung als Teil des Wohnens von der für das Wohngebäude erteilten Baugenehmigung gedeckt ist, ohne Bedeutung.

„Solchen Störungen kann ‑ wie anderen Störungen, die von einer dem Wohnen unterfallenden und davon untrennbaren Nutzung ausgehen, beispielsweise lauter Musik oder dem Rauch eines Grills ‑ auf der Grundlage von Rechtsvorschriften außerhalb des Baurechts, beispielsweise des Immissionsschutzrechts, begegnet werden. So sind [auch] Tiere so zu halten, dass durch den von ihnen verursachten Lärm Dritte nicht mehr als nur geringfügig belästigt werden. …“

Es kommt auch nicht darauf an, ob die Haltung von mehr als zwei Papageienvögeln auf dem Grundstück der Klägerin nach § 14 BauNVO zulässig wäre und den von der Rechtsprechung hierzu aufgestellten Kriterien genügen würde.

„Die Vorschrift behandelt allein die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit von untergeordneten Nebenanlagen und Einrichtungen. Die Ordnungsverfügung regelt jedoch nicht, jedenfalls nicht konkret, die Haltung von Papageienvögeln in einer solchen Nebenanlage, sondern untersagt die Haltung von mehr als zwei Papageienvögeln auf dem gesamten Grundstück und damit auch – und das ist hier mit Blick auf die Legalisierungswirkung der Baugenehmigung ausschlaggebend – für die Wohnung der Klägerin. Dass gegebenenfalls bestimmte Nutzungen im Rahmen der Hauptnutzung zulässig, in einer untergeordneten Nebenanlage oder Einrichtung aber unzulässig sein können, ergibt sich aus der in § 14 BauNVO getroffenen gesetzgeberischen Entscheidung, hinsichtlich der Zulässigkeit von Hauptanlagen und Nebenanlagen zu differenzieren. … Nebenanlagen … müssen daher gegebenenfalls anderen baurechtlichen Anforderungen genügen als die Hauptnutzung und bedürfen – je nach Anlage – einer eigenständigen Baugenehmigung.“

Schließlich ist die Ordnungsverfügung auch deshalb aufzuheben, weil die Bauaufsichtsbehörde das ihr eingeräumte Ermessen nicht fehlerfrei ausgeübt hat:

„Sie hat nicht erkannt, dass die Haltung von Haustieren – auch die von Papageienvögeln – in der Wohnung als Teil des Wohnens grundsätzlich der Gestaltungsfreiheit des Einzelnen unterliegt. Sie hätte gerade wegen dieser grundsätzlich gegebenen Gestaltungsfreiheit der Klägerin trotz der festgestellten Belästigungen der Nachbarn durch den Lärm, der von den auf dem Grundstück der Klägerin gehaltenen neun Kakadus verursacht wurde, prüfen müssen, ob die von ihr gewählte zahlenmäßige Einschränkung der Haltung von Papageienvögeln aller Arten zwingend für das gesamte Grundstück ausgesprochen werden musste oder ob auch ein milderes, gleichermaßen geeignetes und die Gestaltungsfreiheit der Klägerin angemessen berücksichtigendes Mittel, etwa eine Anordnung, die auf die Änderung der konkreten Form der Haltung der Kakadus abzielte, in Betracht gekommen wäre. Denkbar wäre beispielsweise, anzuordnen, dass die Haltung von Kakadus und bestimmter anderer Arten von Papageienvögeln auf dem Grundstück der Klägerin nur in deren Wohnhaus zulässig ist, verbunden mit der Verpflichtung, durch näher bestimmte Maßnahmen baulicher oder sonstiger Art sicherzustellen, dass Dritte durch den von den Vögeln verursachten Lärm nicht mehr als nur geringfügig belästigt werden. … Weder der Ordnungsverfügung noch den Verwaltungsvorgängen ist zu entnehmen, dass die Beklagte solche oder vergleichbare Erwägungen angestellt und weshalb sie die Wahl eines anderen Mittels verworfen hat. Sie hat sich vielmehr den Weg zu einer fehlerfreien Ermessensausübung verstellt, indem sie undifferenziert jegliche Haltung von mehr als zwei Papageienvögeln in einem Reinen Wohngebiet ungeachtet der konkreten Papageienart und der konkreten Umstände der Haltung für gebietsunverträglich und sich daher für berechtigt gehalten hat, ohne die Legalisierungswirkung der für das Wohnhaus der Klägerin erteilten Baugenehmigung in den Blick zu nehmen, die Haltung von Papageienvögeln losgelöst von der konkret beanstandeten Nutzung entsprechend ihrer Ausgangsüberlegung für das gesamte Grundstück einzuschränken.

Die Rechtswidrigkeit der Ordnungsverfügung führt zur Rechtswidrigkeit des angefochtenen Gebührenbescheids, der die Klägerin ebenfalls in ihren Rechten verletzt und daher nach § 113 I 1 VwGO aufzuheben ist.“

Ergebnis: Das Verwaltungsgericht wird die bauordnungsrechtliche Verfügung aufheben.