Industriegebiet, Begräbnisstätte für Gemeindepriester in einer Kirche – Krypta

BVerfG NVwZ 2016, 1804 = JuS 2016, 952
VGH Mannheim BauR 2017, 699 = BeckRS 2016, 111234 = Eifert, JK 5/17, BauNVO § 9; BauGB § 31 II; GG Art. 4 I, II

Leitsätze (BVerfG):   1. Eine fachgerichtliche Entscheidung verstößt gegen Grundrechte, wenn übersehen worden ist, dass bei der Auslegung und Anwendung der verfassungsmäßigen Vorschriften des einfachen Rechts Grundrechte zu beachten waren, wenn der Schutzbereich der zu beachtenden Grundrechte unrichtig und unvollkommen bestimmt oder ihr Gewicht unrichtig eingeschätzt worden ist, so dass darunter die Abwägung der beiderseitigen Rechtspositionen im Rahmen der einfachgesetzlichen Regelung leidet und die Entscheidung auf diesem Fehler beruht.   2. Zu den immanenten Schranken der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit gehören für die Errichtung von Kultstätten anerkanntermaßen die Beschränkungen, die im Bauordnungs- und Bauplanungsrecht ihren Ausdruck finden, wobei die entsprechenden Vorschriften im Einzelfall unter besonderer Berücksichtigung von Wirkkraft und Tragweite der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit anzuwenden sind.   3. Die Fachgerichte müssen zwar feststellen, ob eine Glaubensvorschrift existiert, welche als Allgemeinwohlgrund im Sinne des § 31 II Nr. 1 BauGB die Erteilung einer Befreiung erfordert, sind dabei jedoch nicht befugt, das Gewicht religiöser Verhaltensvorgaben ohne Inanspruchnahme sachverständiger Hilfe selbst zu bestimmen.   4. Auch die Bestattung kirchlicher Würdenträger nach bestimmten glaubensgeleiteten Riten und die dementsprechende Totensorge zählen zu den von der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit geschützten Betätigungen, wenn in diesen Handlungen der Glaube seinen Ausdruck findet.   5. Selbst bei der Qualifizierung einer Glaubensregel als nicht zwingend erscheint es nicht von vornherein ausgeschlossen, im Blick auf die Bedeutung der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit einen die Erteilung einer baurechtlichen Befreiung erfordernden Allgemeinwohlgrund anzunehmen.

Sachverhalt:
Die Bf. ist eine vereinsrechtlich organisierte Glaubensgemeinschaft und gehört der Erzdiözese der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien in Deutschland an. Im Jahr 1994 errichtete sie auf einem Grundstück in einem Industriegebiet ein Kirchengebäude. Im Jahr 2005 beantragte sie die Genehmigung zur Umnutzung eines Raums im Untergeschoss des Kirchengebäudes in eine Krypta mit zehn Begräbnisplätzen, was von den zuständigen Behörden abgelehnt wurde.

Mit ihrer Klage hatte die Bf. vor dem VG Stuttgart zunächst Erfolg, scheiterte aber dann in der Berufungsinstanz vor dem VGH Mannheim, weil die Voraussetzungen einer Befreiung nach § 31 II BauGB nicht erfüllt seien. Das BVerwG hob das Berufungsurteil auf, weil auch religiöse Belange privatrechtlich organisierter Religionsgesellschaften als Gründe des Wohls der Allgemeinheit zu berücksichtigen seien. Der erneut befasste VGH wies die Klage wiederum ab. Er nahm an, die Notwendigkeit pietätsbedingter Zurückhaltung der Industriebetriebe mit unpassenden Lebensäußerungen (etwa Produktionslärm, Geschäftsbetrieb etc.) sei mit der Lage der Krypta im Industriegebiet einfach nicht zu vereinbaren. Der Ritus der Hauskirchenbestattung sei zwar verfassungsrechtlich durch die Religionsfreiheit geschützt. Demgegenüber seien aber das Gebot des Schutzes der Totenruhe und der Pietät von Begräbnisstätten sowie die Nutzungsinteressen der Unternehmen im Industriegebiet als öffentliche Belange vorrangig.

Die nach Nichtzulassung der Revision erhobene Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg.

Problemzonen und Weichenstellungen:
Die zuständige Zweite Kammer des Ersten Senats des BVerfG geht völlig zu Recht von der Annahme aus, dass das Anliegen der Bf., ihre Geistlichen in der Krypta zu bestatten, durch die in Art. 4 I, II GG geschützte Glaubens- und Bekenntnisfreiheit geschützt sei und deshalb bei der Anwendung des § 31 II BauGB berücksichtigt werden müsse. Auch die Annahme, dass sich Möglichkeiten der Begrenzung der Religionsfreiheit aus den Grundrechten Dritter sowie Gemeinschaftswerten von Verfassungsrang ergeben könnten, so dass die betroffenen Verfassungsgüter im Wege praktischer Konkordanz zum Ausgleich gebracht werden müssten, entspricht st. Rspr. Bemerkenswert sind aber die Aussagen der Kammer zu den in Frage kommenden „verfassungsimmanenten Schranken“ im Einzelnen. Die Kammer wendet sich vor  allem dagegen, dass der im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung aus Art. 1 I GG abgeleitete postmortale Achtungsanspruch der Verstorbenen einerseits der Glaubensfreiheit der Bf. andererseits entgegengesetzt wurde. Die Kammer nimmt an, dass dieser Anspruch den Menschen über seinen Tod hinaus davor schütze, in einer die Menschenwürde verletzenden Weise herabgewürdigt zu werden:

„Dergleichen ist hier jedoch nicht zu besorgen. Denn unabhängig von den Fragen, ob verstorbene Geistliche der Bf. auf den der Hauskirchenbestattung gegebenenfalls entgegenstehenden Schutz aus Art. 1 I GG wirksam verzichten und – dieser Frage vorgelagert – ob ein Grundrechtsausübungsverzicht im Anwendungsbereich von Art. 1 I GG überhaupt möglich ist …, ist bereits der Schutzbereich des Art. 1 I GG nicht in eingriffserheblicher Weise tangiert. Ob die bloße Gewerbetätigkeit auf den Nachbargrundstücken und die daraus resultierenden Immissionen die vor diesem Hintergrund zu beachtende Erheblichkeitsschwelle für eine Qualifikation als Eingriff erreichen, mithin die dort bestatteten Verstorbenen herabwürdigen würden, erscheint bereits zweifelhaft, bedarf aber keiner Entscheidung. Denn bei der Beantwortung der Frage, ob eine Beeinträchtigung vorliegt, ist dem – gegebenenfalls auch nur mutmaßlichenWillen des vermeintlich Betroffenen hinlängliches Gewicht beizumessen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Schutzbereichsperipherie betroffen ist, nicht aber der Kerngehalt. Überdies lässt sich der Würdeschutz gegen das freiwillige und eigenverantwortliche Handeln der Person – trotz der auch objektivrechtlichen Geltungsdimension der Menschenwürde – auch deshalb nicht begründen, weil andernfalls die als Freiheits– und Gleichheitsversprechen zu Gunsten aller Menschen konzipierte Menschenwürdegarantie zu einer staatlichen Eingriffsermächtigung verkehrt würde. Der Schutz der Menschenwürde würde gegen ihren personalen Träger gewendet mit der Konsequenz, diesem gerade diejenige individuelle Autonomie abzusprechen, die ihm Art. 1 I GG garantieren will.“

Durchblick: Der Mensch hat seine Würde gerade aufgrund seines eigenen selbstbestimmten Verhaltens. Art. 1 I GG schützt danach die Würde des Menschen so, wie er sich in seiner Indivi­dualität selbst begreift. Es gibt also keine staatliche Verpflichtung des Menschen zum „richtigen“ Menschsein. Der Staat darf also seine Vorstellungen von Menschenwürde nicht aufdrängen[1]. Das Grundrecht auf Menschenwürde darf nicht zu einer Grundpflicht zur Menschenwürde umgeformt werden. Denn dadurch würden aus Freiheitsverbürgungen gegenüber staatlichen Eingriffen Rechtsgrundlagen gerade für solche Eingriffe. Die Menschenwürde ist aber keine Eingriffsnorm, auf deren Grundlage „Erziehungsmaßnahmen“ möglich sind, durch die das Individuum zum Objekt staatlicher Fürsorge degradiert und zu einem vom Staat oktroyierten „würdigen Verhalten“ veranlasst werden kann. Es gibt auch hier keinen ‚Grundrechtsschutz gegen sich selbst‘.

Gegenüber der (anfänglichen) Annahme des VGH, dass die umgebungsgeschuldete gewerbliche Betriebsamkeit und die damit einhergehende Lärmbelastung als Verletzung der Menschenwürde (Art. 1 I GG) der zu bestattenden Priester einzustufen sei, betont die Kammer, dass von dem mutmaßlichen Willen des Verstorbenen auszugehen sei, trotz dieser Gegebenheiten im Umfeld der Kirche in der Krypta bestattet zu werden, zumal dies eine besonders würdevolle Form der Bestattung darstelle.

Dasselbe nimmt das BVerfG für die Totenruhe an, die es gleichfalls durch Art. 1 I GG geschützt sieht; auch hier komme eine Verletzung durch Maßnahmen nicht in Betracht, durch die (insoweit allerdings zirkulär) die Würde des Verstorbenen gewahrt und seinem mutmaßlichen Willen besser Rechnung getragen werde.

Als kollidierendes Verfassungsrecht zieht die Kammer auch das Pietätsempfinden der Hinterbliebenen oder der Allgemeinheit in Betracht. Zu Ersterem heißt es:

„Soweit infolge industriegebietstypischer Immissionen ein würdiges Totengedenken der Hinterbliebenen, das nach Art. 2 I GG (ggf. verstärkt durch Art. 4 GG) Schutz findet, vereitelt zu werden droht, muss bei einem freiheitlich orientierten Verständnis Raum für eine individuelle Definition würdigen Totengedenkens bleiben. Der Staat hat sich demzufolge jedenfalls in Grenzfällen bei der Frage Zurückhaltung aufzuerlegen, welche Form von Totengedenken noch pietätvoll ist und welche nicht mehr. Dies gilt insbesondere in Fällen, in denen auch die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit berührt ist. Erst bei einer Berührung des Kernbereichs, die bei einer nur drohenden Lärmbelästigung indessen eher fernliegt, mag das anders zu beurteilen sein. Davon unabhängig verbleibt den Hinterbliebenen insoweit die aus ihrem religiösen Selbstbestimmungsrecht folgende Möglichkeit der Eingriffseinwilligung beziehungsweise des Grundrechtsausübungsverzichts.“

Zum Pietätsempfinden der Allgemeinheit, für das die Kammer eine Dispositionsbefugnis (der Hinterbliebenen) verneint, heißt es:

„Allerdings dürfen – wie bereits ausgeführt – die Grenzen der Glaubensfreiheit nur von der Verfassung selbst her bestimmt werden… Hierzu zählen lediglich Grundrechte Dritter sowie Gemeinschaftswerte von Verfassungsrang… Einen solchen Gemeinschaftswert stellt das Pietätsempfinden der Allgemeinheit mangels hinreichender verfassungsrechtlicher Abstützung jedoch nicht dar. Schon aus diesem Grund kann der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit auch nicht das Pietätsempfinden der Grundstücksnachbarn entgegengehalten werden.“

Demgegenüber hält die Kammer die Grundrechte aus Art. 14 I 1 und Art. 12 I GG für grundsätzlich kollisionsfähig mit der Glaubensfreiheit der Bf., sieht aber insoweit keine hinreichenden Bemühungen des VGH darum, der Bedeutung der Religionsfreiheit gegenüber den genannten Grundsätzen im Rahmen praktischer Konkordanz Rechnung zu tragen.
Einen Verstoß gegen Art. 3 I GG durch eine Ungleichbehandlung der Bf. im Vergleich zu anderen Religionsgemeinschaften, für die man auch an Art. 3 III 1 GG hätte denken können, lehnt die Kammer jedenfalls deswegen ab, weil die Sachverhalte räumlich verschiedene Baugebiete beträfen (nämlich Industriegebiet einerseits, andere Baugebiete wie Kerngebiete andererseits) und daher nicht vergleichbar seien. Offen blieb demgegenüber, ob es auch „an der personalen Vergleichbarkeit der Sachverhalte“ fehle, soweit die Bf. auf vorhandene Gruften katholischer Kirchen verweist; damit nahm die Kammer offenbar auf die Stellung der  katholischen Kirche als Körperschaft des öffentlichen Rechts Bezug.

Beachte: Nach der Zurückverweisung des Rechtsstreits durch das BVerfG hat der VGH Mannheim der Klage auf Erteilung einer Baugenehmigung für die Krypta stattgegeben. Zur Begründung hat der VGH im Wesentlichen ausgeführt, der Klägerin stehe angesichts der für den Senat bindenden Entscheidung des BVerfG ein Anspruch auf baurechtliche Zulassung der Krypta zu. Maßgeblich sei dabei, dass die Krypta in einer bereits genehmigten und von der Klägerin als solche auch genutzten Kirche eingerichtet werden solle und dass das Vorhaben dem Schutzbereich der Glaubens- und Gewissensfreiheit unterfalle. Der für das Baugrundstück geltende Bebauungsplan der Gemeinde werde von der zusätzlichen Einrichtung der Krypta in der Kirche nicht in seinen Grundzügen berührt. Von der in der Zwischenzeit erlassenen Veränderungssperre sei eine Ausnahme zu erteilen. Auch könnten der Glaubens- und Gewissensfreiheit der Klägerin nach dem Beschluss des BVerfG nur das Eigentumsrecht und die Berufsausübungsfreiheit der Nachbarbetriebe, nicht aber das Pietätsempfinden der Nachbarn und der Allgemeinheit entgegen gehalten werden, da deren Bedürfnis, mit ihrer betrieblichen Tätigkeit nicht die Totenruhe einer angrenzenden Grabstätte zu verletzen, eben nur bloßes Pietätsempfinden darstelle, das nicht von Verfassungsrang sei. Nennenswerte weitere Auswirkungen auf das Eigentum und die Berufsfreiheit der Nachbarbetriebe seien aber angesichts der bereits bestehenden Kirchennutzung durch die Einrichtung der Krypta nicht konkret zu erwarten. Die Krypta bewirkt keine gegenüber der jetzigen Situation erhöhte Störempfindlichkeit, da Andachten in der Krypta neben den schon bisher mehrfach täglich und zu Schichtzeiten stattfindenden Zeremonien nicht ins Gewicht fallen und eine Störung der Totenruhe schon bei den bereits stattfindenden Beerdigungsfeiern zu besorgen ist. Da die Krypta im Kircheninneren liegt, sind Störungen durch eigene Maßnahmen der K abwendbar (Dämmung; Fensterschließen). Möglichen Lärmschutzauflagen steht die industrielle Vorbelastung des Baugebiets entgegen. Gründe des Wohls der Allgemeinheit iSd § 31 II Nr. 1 BauGB erfordern eine Befreiung. Solche Gründe erfassen nicht nur bodenrechtliche, sondern alle öffentlichen Belange, wie etwa in § 1 V, VI BauGB aufgelistet. Religiöse Belange nicht unbedeutender privater Kirchen sind „Gründe des Wohls der Allgemeinheit“ (hier einschlägig: § 1 VI Nr. 3 und Nr. 6 BauGB!).

Gemeinwohlgründe erfordern eine Befreiung, wenn eine solche zur Wahrnehmung des öffentlichen Interesses „vernünftigerweise geboten“ ist. Unter Zumutbarkeitsgesichtspunkten ist es wegen zwingender Glaubensüberzeugungen der K vernünftigerweise geboten, die Krypta in der – bestandskräftig genehmigten – Hauskirche zu errichten. Unzumutbar ist ein Kirchenneubau mit Krypta an anderem Ort. K hat sich auch nicht aus freien Stücken auf den Kirchenbau ohne Krypta eingelassen, da ihr damaliger Antrag auf Genehmigung einer Krypta abgelehnt worden war. Die Abweichung von den Festsetzungen des Bebauungsplans ist also unter Würdigung der nachbarlichen Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar. Das behördliche Befreiungsermessen ist auf Null reduziert.