Identitätskontrolle

BVerfG NJW 2016, 1149 = JZ 2016, 410 = Eifert, JK 6/16, StaatsorgaR, GG Art. 23 I = JuS 2016, 373 m. Anm. Bender ZJS 2016, 260 u. Anm. Sauer NJW 2016, 1134
[Identitätskontrolle: Schuldgrundsatz – Gewährleistungsverantwortung – Auslieferungsbeschluss]

Leitsätze (verändert):  1. Der Anwendungsvorrang, den Unionsrecht auch gegenüber deutschem Verfassungsrecht besitzt, ist durch die in Art. 23 I 3, Art. 79 III GG integrationsfest gestaltete Verfassungsidentität begrenzt.   – 2. Die Wahrung der Verfassungsidentität ist bei der Anwendung von Unionsrecht oder von unionsrechtlich determiniertem nationalen Recht durch die deutsche öffentliche Gewalt sicherzustellen. Die deutsche öffentliche Gewalt trifft eine ‚Gewährleistungsverantwortung‘.   – 3. Das Bundesverfassungsgericht prüft im Rahmen der Identitätskontrolle, ob die Verfassungsidentität durch einen Akt der Unionsgewalt berührt ist. Bejahendenfalls ist Unionsrecht in Deutschland für unanwendbar zu erklären.   – 4. Das Schuldprinzip (nulla poena sine culpa) ist aufgrund der Menschenwürdegarantie und des Rechtsstaatsprinzips Teil der unverfügbaren Verfassungsidentität und darf als integrationsfestes Schutzgut auch im Einzelfall nicht relativiert werden.   5. Das Bundesverfassungsgericht stellt die Beachtung des Schuldprinzips durch deutsche Gerichte im Wege der Identitätskontrolle auch dann sicher, wenn das angewendete deutsche Recht durch Unionsrecht abschließend determiniert ist (Parallelität der verfassungs- und unionsrechtlichen Anforderungen).

Sachverhalt (vereinfacht):
Der Bf. ist Staatsangehöriger der USA. Am 27.3.1992 verurteilte ihn das Appellationsgericht Florenz wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung sowie Einfuhr und Besitz von Kokain zu einer Freiheitsstrafe von 30 Jahren. Das Strafurteil erging in Abwesenheit des Bf. und wurde ihm nicht zugestellt. Im Jahre 2014 wurde der Bf. aufgrund eines Auslieferungsersuchens der Italienischen Republik, das sich auf einen Europäischen Haftbefehl der Generalstaatsanwaltschaft beim Appellationsgericht Florenz stützt, in Deutschland festgenommen. Der Bf. befindet sich in Auslieferungshaft.

Mit Beschluss vom 7.11.2014 erklärte das OLG Düsseldorf die Auslieferung für zulässig. Dass die Auslieferung der Vollstreckung eines Abwesenheitsurteils diene, stehe hier ihrer Zulässigkeit nicht nach § 83 Nr. 3 des Gesetzes über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) entgegen (§ 83 IRG setzt Bestimmungen des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl (RbEuHb) in deutsches Recht um). Die Vorschrift bestimmt, dass die Auslieferung unzulässig ist, wenn dem Verfolgten nicht „nach seiner Überstellung das Recht auf ein neues Gerichtsverfahren, in dem der gegen ihn erhobene Vorwurf umfassend überprüft wird, und auf Anwesenheit bei der Gerichtsverhandlung eingeräumt wird“. Das OLG stützte seine Entscheidung auf Auskünfte zum Verfahrensgang vor den italienischen Gerichten, die es bei der Generalstaatsanwaltschaft Florenz eingeholt hatte. Nach den erteilten Auskünften sei davon auszugehen, dass dem Bf. ein tatsächlich wirksamer, von seinem Antrag abhängiger und nicht im Ermessen der italienischen Justiz stehender Rechtsbehelf auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Verfügung stehe. Es sei eine umfassende Überprüfung des Abwesenheitsurteils gewährleistet. Es könne offenbleiben, ob diese Prüfung im Rahmen einer Berufungshauptverhandlung oder in einem neuen erstinstanzlichen Verfahren stattfinde. Dass die Ausführungen der Generalstaatsanwaltschaft Florenz insoweit nicht eindeutig seien, sei mithin unschädlich. Eine erneute Beweisaufnahme sei „jedenfalls nicht ausgeschlossen“.

Gegen den Beschluss wendet sich der Bf. im Wege der Verfassungsbeschwerde. Wie bereits im Ausgangsverfahren legt er eingehend dar, dass die konkrete Möglichkeit bestehe, dass er in Italien ohne Feststellung seiner Schuld bestraft werde. Dies verletze seine Menschenwürde.

Problemzonen und Weichenstellungen:
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.
Der Bf. hat die Möglichkeit einer Verletzung seines Grundrechts aus Art. 1 I GG (nulla poena sine culpa) substantiiert dargelegt.

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet.

(1) Die angegriffene Entscheidung ist am Maßstab des Grundgesetzes zu prüfen. Ihre Kontrolle scheidet nicht deswegen aus, weil die vom OLG angewandten Vorschriften unionsrechtlich determiniert sind:

„Mit der in Art. 23 I 2 GG enthaltenen Ermächtigung, Hoheitsrechte auf die EU zu übertragen, billigt das Grundgesetz die im Zustimmungsgesetz zu den Verträgen enthaltene Einräumung eines Anwendungsvorrangs zugunsten des Unionsrechts. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor nationalem Recht gilt grundsätzlich auch mit Blick auf entgegenstehendes nationales Verfassungsrecht … und führt bei einer Kollision im konkreten Fall in aller Regel zu dessen Unanwendbarkeit“. Er „reicht jedoch nur soweit, wie das Grundgesetz und das Zustimmungsgesetz die Übertragung von Hoheitsrechten erlauben oder vorsehen …. Der im Zustimmungsgesetz enthaltene Rechtsanwendungsbefehl kann nur im Rahmen der geltenden Verfassungsordnung erteilt werden … Grenzen für die Öffnung deutscher Staatlichkeit ergeben sich – jenseits des im Zustimmungsgesetz niedergelegten Integrationsprogramms in seiner konkreten Ausgestaltung – aus der in Art. 79 III GG niedergelegten Verfassungsidentität des Grundgesetzes … Soweit Maßnahmen eines Organs oder einer sonstigen Stelle der Europäischen Union Auswirkungen zeitigen, die die durch Art. 79 III GG in Verbindung mit den in Art. 1 und Art. 20 GG niedergelegten Grundsätzen geschützte Verfassungsidentität berühren, gehen sie über die grundgesetzlichen Grenzen offener Staatlichkeit hinaus. Auf einer primärrechtlichen Ermächtigung kann eine derartige Maßnahme nicht beruhen, weil auch der mit der Mehrheit des Art. 23 I 3 iVm Art. 79 II GG entscheidende Integrationsgesetzgeber der Europäischen Union keine Hoheitsrechte übertragen kann, mit deren Inanspruchnahme eine Berührung der von Art. 79 III GG geschützten Verfassungsidentität einherginge … Auf eine Rechtsfortbildung zunächst verfassungsmäßiger Einzelermächtigungen kann sie ebenfalls nicht gestützt werden, weil das Organ oder die Stelle der Europäischen Union damit ultra vires handelte“.

Die Frage nach der Einhaltung der sich aus Art. 23 I 3 GG iVm Art. 79 III GG ergebenden Integrationsgrenzen ist der Gegenstand der sog. Identitätskontrolle. Zu dieser Identitätskontrolle stellt das BVerfG fest, dass diese wie seinerzeit beim Solange-Vorbehalt und im Rahmen der Ultra-vires-Kontrolle, welche en passant bestätigt werden, in eng begrenzten Einzelfällen zur Unanwendbarkeit von Unionsrecht in Deutschland führen kann:

„Im Rahmen der Identitätskontrolle ist zu prüfen, ob die durch Art. 79 III GG für unantastbar erklärten Grundsätze durch eine Maßnahme der EU berührt werden“. Wenn dies der Fall ist, dann ist das die Verfassungsidentität berührende Unionsrecht in Deutschland für unanwendbar zu erklären. „Um zu verhindern, dass sich deutsche Behörden und Gerichte ohne weiteres über den Geltungsanspruch des Unionsrechts hinwegsetzen, verlangt die europarechtsfreundliche Anwendung von Art. 79 III GG zum Schutz der Funktionsfähigkeit der unionalen Rechtsordnung und bei Beachtung des in Art. 100 I GG zum Ausdruck kommenden Rechtsgedankens aber, dass die Feststellung einer Verletzung der Verfassungsidentität dem BVerfG vorbehalten bleibt“.

Aus dem bundesverfassungsgerichtlichen Kontrollvorbehalt folgt auch keine substantielle Gefahr für die einheitliche Anwendung des Unionsrechts:„Zum einen wird gerade im Hinblick auf die hier in Rede stehenden Grundsätze des Art. 1 GG eine Verletzung schon deshalb nur selten vorkommen, weil Art. 6 EUV, die Charta der Grundrechte und die Rechtsprechung des EuGH in der Regel einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber Maßnahmen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union gewährleisten … Zum anderen sind die dem BVerfG vorbehaltenen Kontrollbefugnisse zurückhaltend und europarechtsfreundlich auszuüben … Soweit erforderlich, legt es seiner Prüfung dabei die Maßnahme in der Auslegung zugrunde, die ihr in einem Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 III AEUV durch den EuGH gegeben wurde. Das gilt nicht nur im Rahmen der Ultra-vires-Kontrolle, sondern auch vor der Feststellung der Unanwendbarkeit einer Maßnahme von Organen, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Europäischen Union in Deutschland wegen einer Berührung der durch Art. 79 III in Verbindung mit Art. 1 und 20 GG geschützten Verfassungs-identität …“

Zu den Schutzgütern der in Art. 79 III GG niedergelegten Verfassungsidentität gehört der in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 I GG verankerte Grundsatz (BVerfG – nach hM in Art. 20 III GG), dass jede Strafe Schuld voraussetzt (nulla poena sine culpa). Die Verwirklichung des Schuldgrundsatzes

„ist gefährdet, wenn die Ermittlung des wahren Sachverhalts nicht sichergestellt ist … Die Zumessung einer angemessenen Strafe, die zugleich einen sittlich-ethischen Vorwurf darstellt, setzt die Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit des Angeklagten und damit grundsätzlich dessen Anwesenheit voraus. Der Schuldgrundsatz macht daher Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten im Strafprozess erforderlich, durch die gewährleistet wird, dass der Beschuldigte Umstände vorbringen und prüfen lassen kann, die zu seiner Entlastung führen oder für die Strafzumessung relevant sein können“. Der Verfolgte muss im ersuchenden Staat daher „die Möglichkeit haben, auf das Verfahren einzuwirken, sich persönlich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern, entlastende Umstände vorzutragen sowie deren Nachprüfung und gegebenenfalls auch Berücksichtigung zu erreichen“. Die deutsche öffentliche Gewalt trifft eine „Gewährleistungsverantwortung“. Sie darf „die Hand nicht zu Verletzungen der Menschenwürde durch andere Staaten reichen“.

Diesbezüglich trifft das über eine Auslieferung entscheidende Gericht eine Pflicht zur hinreichenden Aufklärung des Sachverhalts.

(2) Die angegriffene Entscheidung berührt Art. 1 I GG und ist deshalb verfassungswidrig.
Sie beachtet den Schuldgrundsatz nicht. Das OLG hat den Sachverhalt nicht in hinreichendem Ausmaß aufgeklärt. Der Bf. hat unter Heranziehung einschlägiger Vorschriften der italienischen Strafprozessordnung und der Rechtsprechung italienischer Gerichte Anhaltspunkte dafür vorgetragen, dass ihm der von Art. 1 I GG geschützte Mindestbestand an Beschuldigtenrechten nach einer Auslieferung nicht zu Gebote stehen wird. Dass eine erneute Beweisaufnahme „jedenfalls nicht ausgeschlossen“ sei, stellt keine hinreichende Vergewisserung über den weiteren Verfahrensgang dar. Mit anderen Worten, das OLG Düsseldorf hat die beantragte Auslieferung für zulässig erklärt, ohne abschließend zu klären, ob der Bf. in dem in Italien bevorstehenden (Berufungs-) Verfahren eine erneute Beweisaufnahme verlangen kann.

Durchblick: Einer unter Rückgriff auf Art. 79 III iVm Art. 1 I GG begründeten Begrenzung des unionsrechtlichen Anwendungsvorranges bedurfte es im vorliegenden Zusammenhang nicht, weil nationales Recht und Unionsrecht insoweit im Gleichklang stehen: Schon das Unionsrecht verpflichtet das OLG Düsseldorf dazu, die zum Schutz der Menschenwürde auch verfassungsrechtlich gebotenen Prüfungen vorzunehmen; das OLG ist also schon aufgrund der unionsrechtlichen Vorgaben verpflichtet gewesen, die ihm schließlich angelasteten Verletzungen der Menschenwürdegarantie zu vermeiden. Diese Parallelität der verfassungs- und unionsrechtlichen Anforderungen bedeutet aber, wie das BVerfG zutreffend feststellt, dass der Anwendungsvorrang des Unionsrechts hier keine Rolle spielt, weil es schon an einer Kollision zwischen Unions- und Verfassungsrecht fehlt. Geht man von der Übereinstimmung von Unions- und Verfassungsrecht aus, ergibt sich, dass der Beschluss des OLG als Akt der deutschen Staatsgewalt ohne weiteres der verfassungsgerichtlich kontrollierten Grundrechtsbindung unterliegt, weil dem kein unionsrechtliches Hindernis entgegensteht. Unionsrechtliche Determinierung deutschen Staatshandelns hindert, auch wenn sie abschließend ist, eine Aufhebung gerichtlicher Entscheidungen unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht, wenn diese die Anordnungen des Unionsrechts nicht in Frage stellt, sondern geradezu verwirklicht.