Grundrechtsfähigkeit und Grundrechtsberechtigung

BVerfG NJW 2011, 3428 = Ehlers, JK 2/12, GG Art. 19 III/10 (Le-Corbusier-Möbel)
BVerfG NJW 2016, 1436 = Kingreen, JK 10/16, GG Art. 2 I, 12 I, 19 III, 23 I, 76–78 = JuS 2016, 1044  (verschreibungspflichtige Medikamente
[Grundrechtsberechtigung juristischer Personen aus EU-Mitgliedstaaten]
BVerwG NVwZ 2015, 1384 = BayVBl. 2015, 828 = JuS 2015, 955
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Leitsatz (BVerfG):   1. Die Erstreckung der Grundrechtsberechtigung auf juristische Personen aus Mitgliedstaaten der EU stellt eine aufgrund des Anwendungsvorrangs der Grundfreiheiten im Binnenmarkt (Art. 26 II AEUV) und des allgemeinen Diskriminierungsverbots wegen der Staatsangehörigkeit (Art. 18 AEUV) vertraglich veranlasste Anwendungserweiterung des deutschen Grundrechtsschutzes dar.   2. Es bestehen wegen des eindeutigen Wortlauts von Art. 12 I GG Zweifel daran, dass sich juristische Personen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat der EU auf die Berufsfreiheit berufen können. Mit Rücksicht auf Art. 26 II, Art. 18 I AUEV kann aber jedenfalls Art. 2 I GG unionsrechtskonform dahingehend ausgelegt werden, dass das allgemeine Freiheitsgrundrecht juristischen Personen aus anderen EU-Mitgliedsstaaten denselben Schutz gewährleistet, der Deutschen durch Art. 12 I GG zukommt.

Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin, eine GmbH nach italienischem Recht mit Sitz in Italien (Confetti S.p.A.), produziert Möbel nach Entwürfen des des 1965 verstorbenen Architekten und Möbeldesigners Le Corbusier. Mit den Rechtsnachfolgern des Designers bestehen urheberrechtliche Exklusivverträge. Zeta Zick, eine Zigarrenherstellerin, richtete in einer Kunst- und Ausstellungshalle eine Zigarrenlounge ein. Sie erwarb bei einer in Bologna geschäftsansässigen Firma Nachbildungen von Sesseln und Sofas der Le-Corbusier-Möbel und stellte diese in der Lounge auf. Urheberrechtliche Nutzungsrechte an den Möbelmodellen sind der Streithelferin nicht eingeräumt.

Die Beschwerdeführerin erwirkte beim LG und beim OLG eine Verurteilung der Bekl., es zu unterlassen, von ihr nicht genehmigte Nachbildungen urheberrechtlich geschützter Le-Corbusier-Möbelmodelle in der Bundesrepublik Deutschland zu verwerten, insbesondere in der genannten Zigarrenlounge aufzustellen und gewerblich zu benutzen. Nachdem der EuGH in einem Parallelverfahren entschieden hatte, ließ der BGH die Revision im Ausgangsverfahren zu und wies mit dem angegriffenen Urteil die Klage ab. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Grundrechten (Art. 14 GG, Art. 101 I 2 GG). Ist sie als GmbH nach italienischem Recht überhaupt grundrechtsfähig?

Problemzonen und Weichenstellungen:
C als Beschwerdeführerin ist nach § 90 I BVerfGG beschwerdefähig und -befugt.
Art. 19 III GG steht der Beschwerdefähigkeit für die Rüge einer Verletzung von Art. 14 I GG nicht entgegen. Das BVerfG hat die Geltung der materiellen Grundrechte allgemein für ausländische juristische Personen zwar unter Berufung auf die Inländerklausel des Art. 19 III GG abgelehnt. Angesichts der unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote in ihrer Auslegung durch den EuGH erscheint es jedoch möglich, dass C mit Sitz in Italien Trägerin des Grundrechts auf Eigentum ist. Desweiteren ist C durch die Exklusivverträge mit den Rechtsnachfolgern in deren durch Art. 14 I GG gewährleistete Schutzrechte des geistigen Eigentums eingerückt. Es handelt es sich nicht um den Fall einer grundsätzlich unzulässigen Prozessstandschaft. Die Beschwerdefähigkeit und -befugnis im Hinblick auf die Rüge einer Entziehung des gesetzlichen Richters gemäß Art. 101 I 2 GG sind gegeben, da dieses Recht aus Art. 101 I 2 GG jedem (und damit auch ausländischen Personen) zustehen kann.

Nach Art. 19 III GG gelten die Grundrechte auch für inländische juristische Personen, soweit sie auf diese anwendbar sind. Dies trifft auf Art. 14 I GG zu. Bei C handelt es sich aber um eine ausländische juristische Person. Auch wenn das Territorium der Mitgliedstaaten der EU angesichts des jedem Bürger gewährten Raumes „der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen“ mit freiem Personenverkehr (Art. 3 II EUV) nicht mehr „Ausland“ im klassischen Sinne sein mag, wird es dadurch nicht zum „Inland“. Es würde die Wortlautgrenze des Art. 19 III GG übersteigen, wollte man seine unionsrechtskonforme Auslegung auf eine Deutung des Merkmals „inländische“ als „deutsche einschließlich europäische“ juristische Personen stützen. Doch ergibt sich die Erstreckung der Grundrechtsberechtigung auf juristische Personen aus Mitgliedstaaten der EU aus dem Anwendungsvorrang der Grundfreiheiten im Binnenmarkt (Art. 26 II AEUV) und des allgemeinen Diskriminierungsverbots (Art. 18 AEUV). Die Grundfreiheiten und das allgemeine Diskriminierungsverbot stehen im Anwendungsbereich des Unionsrechts einer Ungleichbehandlung in- und ausländischer Unternehmen aus der EU entgegen und drängen insoweit die in Art. 19 III GG vorgesehene Beschränkung der Grundrechtserstreckung auf inländische juristische Personen zurück. Ein gleichwertiger Schutz der C ist nicht anderweitig gesichert. Zwar können sich juristische Personen mit Sitz in einem anderen EU-Mitgliedstaat in fachgerichtlichen Verfahren auf die unmittelbare Geltung des primären Unionsrechts stützen. Für einen gleichwertigen Schutz reicht es jedoch nicht aus, wenn ausländische juristische Personen ihre Rechte nicht gemäß Art. 93 I Nr. 4a GG mangels Grundrechtsträgerschaft nicht auch mit Hilfe des BVerfG durchsetzen können. Ein Eingreifen der aus den Grundfreiheiten und Art. 18 AEUV abgeleiteten unionsrechtlichen Diskriminierungsverbote setzt voraus, dass die betroffenen juristischen Personen aus der EU im Anwendungsbereich des Unionsrechts tätig werden. Die Tätigkeit der C, die sich unter anderem auf unionsrechtlich (teil-)harmonisiertes Urheberrecht beruft, welches durch wirtschaftliche Aktivitäten in Deutschland verletzt worden sein soll, fällt in den Anwendungsbereich der Verträge.