Analoge Anwendung des § 49 II VwVfG auf ursprünglich rechtswidrige Verwaltungsakte

BVerwG GewA 2019, 24 = DÖV 2019, 120 = BeckRS 2018, 28295 = Eifert, JK 5/19, VwVfG §§ 48, 49
[rechtswidriger Widerruf – und Umdeutung in Rücknahme]

Leitsätze:  1. Die entsprechende Anwendung des § 49 II VwVfG auf einen ursprünglich rechtswidrigen Verwaltungsakt setzt voraus, dass ein Widerrufsgrund gemäß Satz 1 Nr. 1 bis 5 der Vorschrift vorliegt.   2. Bei ursprünglich rechtswidrigen Verwaltungsakten liegt ein Widerrufsgrund gemäß § 49 II 1 Nr. 3 VwVfG vor, wenn nachträglich Tatsachen eintreten, derentwegen die Behörde – unabhängig von den Gründen der ursprünglichen Rechtswidrigkeit – berechtigt wäre, den Verwaltungsakt nicht zu erlassen. Dagegen genügt nicht, dass tatsächliche Voraussetzungen für den Erlass des Verwaltungsakts von Anfang an fehlten und die Behörde erst nachträglich davon erfuhr.

Sachverhalt (vereinfacht):
Ken Kracher betreibt eine Tankstelle und darin – ohne räumliche Trennung – zwei Spielautomaten sowie einen kleinen Bistrobereich. Auf Antrag Krachers erteilte diesem die zuständige Behörde am 01.02.2010 für den Betrieb der Spielautomaten die erforderliche Geeignetheitsbestätigung nach § 33c III 1 GewO. Bei Kontrollen am 15.12.2011 und 19.04.2012 wurde festgestellt, dass entgegen der Formulierung in Krachers Antrag keine „Imbißstube“ im Sinne einer abgetrennten Schank- und Speisewirtschaft betrieben wird, sondern ein kleiner Bistrobereich, der gegenüber dem Verkauf von Kraftstoffen und Zubehör in der Tankstelle sowie der Gewinnerzielung aus den Spielgeräten untergeordnete Bedeutung hat. Daher widerrief die zuständige Behörde am 23.07.2012 nach ordnungsgemäßer Ermessensausübung gemäß § 49 II 1 Nr. 3 VwVfG die Bestätigung, da die Voraussetzungen für deren Erlass nicht mehr vorlägen. Die dagegen gerichtete Klage Krachers wies das VG Gelsenkirchen zurück. Zwar greife § 49 VwVfG nicht ein, aber die Voraussetzungen des § 48 VwVfG lägen vor. Das OVG Münster sah hingegen § 49 II 1 Nr. 3 VwVfG als gegeben an. Da diese Vorschrift analog auf ursprünglich rechtswidrige Verwaltungsakte anzuwenden sei, „könne es dahinstehen“, ob die Voraussetzungen der Geeignetheit bereits von Anfang an fehlten oder ob sie nach Erlass der Bestätigung weggefallen sind. Kracher wendet sich dagegen an das BVerwG. 

Beachte: Dem Originalfall lag das NWVwVfG zugrunde, welches – § 137 I Nr. 2 VwGO [lesen!] – zu dem des Bundes inhaltsgleich ist.

Problemzonen und Weichenstellungen:
Die zulässige Revision ist nicht begründet. Zwar verletzt das zweitinstanzliche Urteil des OVG § 49 II 1 Nr. 3 VwVfG (I.), es ist jedoch –  vgl. § 144 IV VwGO [lesen!] – aus anderen Gründen richtig (II.).

I.

1. Nach § 49 II 1 Nr. 3 VwVfG
„kann ein rechtmäßiger begünstigender Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft nur widerrufen werden, wenn die Behörde aufgrund nachträglich eingetretener Tatsachen berechtigt wäre, den Verwaltungsakt nicht zu erlassen, und wenn ohne den Widerruf das öffentliche Interesse gefährdet würde. Rechtmäßige Verwaltungsakte im Sinne des § 49 I, II VwVfG sind solche, die ursprünglich rechtmäßig waren. Das ergibt sich aus dem systematischen Zusammenhang mit §§ 48, 49 II 1 Nr. 4 VwVfG und aus den Gesetzesmaterialien zum VwVfG. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist allerdings anerkannt, dass § 49 II VwVfG auf ursprünglich rechtswidrige Verwaltungsakte entsprechend angewendet werden kann, wenn die übrigen Widerrufsvoraussetzungen gegeben sind. Unter den Bedingungen, unter denen ein begünstigender rechtmäßiger Verwaltungsakt widerrufen werden kann, darf er – erst recht – bei ursprünglicher Rechtswidrigkeit widerrufen werden. Das Vertrauen des Betroffenen ist in diesem Fall nicht schutzwürdiger als bei ursprünglicher Rechtmäßigkeit der Begünstigung. Diese Analogie überbrückt jedoch nur das Fehlen ursprünglicher Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts und nicht auch das Erfordernis eines Widerrufsgrundes gemäß § 49 II 1 Nr. 1 bis 5 VwVfG. Sie erlaubt daher nicht, einzelne gesetzliche Voraussetzungen eines Widerrufsgrundes zu übergehen oder zu modifizieren. Dies gilt auch für das Erfordernis nachträglich eingetretener Tatsachen im Sinne des § 49 II 1 Nr. 3 VwVfG. Seine Anwendung auf ursprünglich rechtswidrige Verwaltungsakte ist nicht denklogisch ausgeschlossen. Nachträgliche Änderungen der Sachlage können nämlich dazu führen, dass Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen entfallen, die bei Erlass des – bereits aus anderen Gründen rechtswidrigen – Verwaltungsakts noch vorlagen.“ 

Beispiel: So kann ein Verwaltungsakt etwa bereits wegen formeller Mängel ursprünglich rechtswidrig sein und wegen einer nachträglichen Änderung der Sachlage zusätzlich aus einem weiteren Grund rechtswidrig werden. 

„Dann sind nachträglich Tatsachen eingetreten, derentwegen die Behörde auch unabhängig von den ursprünglichen Mängeln des Verwaltungsakts berechtigt wäre, diesen nicht zu erlassen.“ 

2. Die entsprechende Anwendung der Norm jedoch auch in Konstellationen,
„in denen die tatsächlichen Voraussetzungen für den Erlass des Verwaltungsakts von Anfang an und (noch) im Zeitpunkt des Widerrufs fehlten, überschreitet die Grenzen zulässiger Analogie. Sie erstreckt die entsprechende Anwendung des § 49 II 1 Nr. 3 VwVfG auf alle Fälle ursprünglicher und fortdauernder materieller Rechtswidrigkeit aus tatsächlichen Gründen, obwohl insoweit keine planwidrige Regelungslücke vorliegt und die Interessenlage nicht mit derjenigen zu vergleichen ist, die bei nachträglicher Änderung für den Verwaltungsakt maßgeblicher Tatsachen besteht. Die fortdauernde ursprüngliche Rechtswidrigkeit ist der klassische Fall der Rücknahme gemäß § 48 VwVfG. Deren Voraussetzungen hat der Gesetzgeber bewusst anders geregelt als die des Widerrufs ursprünglich rechtmäßiger Verwaltungsakte, um den Abstufungen schutzwürdigen Vertrauens im einen wie im anderen Fall Rechnung zu tragen. Die Gesetzesmaterialien betonen ausdrücklich, dass die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts – und nicht dessen begünstigender oder belastender Charakter – das Leitkriterium der Abgrenzung darstellt.“

II. 

Der erklärte Widerruf der Geeignetheitsbestätigung ist jedoch als Rücknahme mit Wirkung für die Zukunft (ex nunc) nach § 48 I VwVfG gerechtfertigt. Die Voraussetzungen für eine Umdeutung gemäß § 47 VwVfG sind erfüllt, so dass der realiter ergangene fehlerhafte Widerruf nach § 49 II 1 Nr. 3 VwVfG in eine Rücknahme nach § 48 I VwVfG umgedeutet werden kann (§ 47 I VwVfG): 

  • „Als Akt der Rechtserkenntnis ist die Umdeutung auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren zulässig“ (str., aber hRspr. – BVerwG GewA 2019, 24 [Tz. 24] u. LKV 2017, 221, 223; a.A. BayVGH BayVBl. 84, 20; Windthorst/Lüdemann NVwZ 94, 244, 245). 
  • „Wie von § 47 I VwVfG gefordert, sind Widerruf und Rücknahme auf das gleiche Ziel – die Aufhebung der Geeignetheitsbestätigung [ex nunc] – gerichtet.“ 
  • „Die Rücknahme hätte von der … [Ausgangsbehörde] nach § 48 V i.V.m. § 3 I Nr. 2 VwVfG in der gleichen Verfahrensweise – nämlich nach Anhörung [§ 47 IV VwVfG] – und in der gleichen Form verfügt werden können.“ 
  • § 47 II 1 VwVfG steht nicht entgegen, denn (auch) eine „Rücknahme für die Zukunft (ex nunc) widerspricht … nicht der erkennbaren Absicht der [Ausgangsbehörde]. Der Tenor des Bescheides und dessen Ermessenserwägungen lassen erkennen, dass die Behörde rechtmäßige Zustände herbeiführen und künftig den Kinder-, Jugend- und Spielerschutz gewährleisten wollte. Von einer Aufhebung der Bestätigung für die Vergangenheit (ex tunc) abzusehen, war gemäß § 48 I, III 2 i. V. m. II–IV VwVfG zulässig, da die Schutzzwecke des § 1 SpielV nicht rückwirkend verwirklicht werden können“. Diese Rücknahme löst auch
  • keine [für K] ungünstigeren Rechtsfolgen aus als der fehlerhafte Widerruf. Ebenso wie dieser beendet sie die Wirksamkeit der Geeignetheitsbestätigung für die Zukunft (§ 43 II VwVfG). Weder die Rücknahme noch der Widerruf lösen finanzielle Ausgleichsansprüche des Klägers aus, weil dessen Vertrauen auf den Bestand der Geeignetheitsbestätigung nicht schutzwürdig ist. Nach § 48 [I 2 iVm] III 2 i. V. m. II 3 Nr. 2 VwVfG besteht kein Anspruch auf Ausgleich des Vermögensnachteils, weil der K die Geeignetheitsbestätigung durch Angaben erwirkt hat, die in wesentlicher Beziehung zumindest unvollständig waren. Dies folgt daraus, dass eine Imbissstube beantragt wurde, die einen gastronomischen Betrieb in einem durch die Bewirtung [spezifisch] geprägtem Raum nahelegt. Tatsächlich stellte der Imbissverkauf lediglich eine räumlich nicht abgetrennte Teilfläche des Tankstellenshops dar und war von untergeordneter Bedeutung. Auf die Vorwerfbarkeit der unzulänglichen Angaben kommt es nach § 48 II 2 Nr. 2 – anders als nach Nr. 3 – VwVfG nicht an. Ebenso stünde … [K] im Falle eines Widerrufs nach § 49 VI 1 VwVfG deshalb kein finanzieller Ausgleichsanspruch zu“. Es ist auch nicht erkennbar, dass
  • der fehlerhafte Verwaltungsakt (etwa aus Gründen des Vertrauensschutzes) nicht zurückgenommen werden dürfte (§ 47 II 2 VwVfG). 
  • § 47 III VwVfG schließt die Umdeutung nicht aus, weil sowohl die Rücknahme als auch der Widerruf Ermessensentscheidungen sind und die zuständige Behörde ihr Ermessen ordnungsgemäß ausgeübt hat. „Auch
  • liegen die Voraussetzungen des § 48 I–IV VwVfG vor“ (§ 47 I VwVfG a.E.):
  • Die erteilte Geeignetheitsbestätigung war rechtswidrig (§ 48 I 1 VwVfG).
  • „Die Rücknahmefrist gemäß § 48 [I 2 iVm] IV VwVfG ist auch gewahrt. Die … [zuständige Behörde] erfuhr erst im Dezember 2011 – weniger als ein Jahr vor Erlass des angefochtenen Bescheides – vom Betrieb des Bistrobereichs im Tankstellenshop des K und damit von den Umständen, aus denen sich die Rechtswidrigkeit der Geeignetheitsbestätigung ergab“.

Ergebnis:

Die Klage des K bleibt unbegründet.